Das Ethogramm – eine Sammlung von Verhaltensdefinitionen

Um Verhaltensweisen einheitlich zählen zu können, müssen Forschende diese genau definieren. Nur so lassen sich Beobachtungsdaten sinnvoll miteinander vergleichen. Eine Sammlung solcher Definitionen von verschiedenen Verhaltensweisen einer Art wird als Ethogramm bezeichnet.

von Niklas Kästner

Ein Artikel aus unserer Rubrik ETHOlexikon (Foto: Aaron Burden via Unsplash, zugeschnitten und gespiegelt)

Stellen Sie sich vor, Sie beobachten eine Gruppe von Erdmännchen. Nun bittet Sie jemand, zu zählen, wie oft sich das Männchen „Norbert“ seinen Artgenossen annähert. Das klingt zunächst nach einer leichten Aufgabe. Doch schon bald sehen Sie, dass Norbert auf ein anderes Tier zugeht – aber dann plötzlich die Richtung wechselt. Kurz darauf kommt er einem Artgenossen zwar sehr nahe – läuft aber ohne ihn anzuschauen daran vorbei. Sie kommen vermutlich ins Grübeln: Zählen Sie Norberts Verhalten in diesen Situationen als „Annähern“?

Zwei Erdmännchen
Wer hat sich hier wohl wem angenähert? (Foto: Joshua J. Cotten via Unsplash, zugeschnitten)

Was das Beispiel verdeutlichen soll: Selbst Verhaltensweisen mit vermeintlich eindeutiger Bezeichnung lassen durchaus Spielraum bei der Interpretation. Das gilt es bei einer wissenschaftlichen Untersuchung aber möglichst zu vermeiden. Erstens, damit die durchführende Person während der Beobachtung konsistent bleibt und die einzelnen Daten somit vergleichbar sind. Und zweitens, damit auch Außenstehende genau nachvollziehen können, wie die Daten erhoben wurden.

Das Ethogramm: ein Katalog von Verhaltensdefinitionen

Aus diesem Grund ist das Ethogramm in der Verhaltensbiologie ein wichtiges Werkzeug. Dabei handelt es sich im engeren Sinne um einen Katalog, der die exakten Definitionen aller bekannten Verhaltensweisen einer Art umfasst. Für eine konkrete verhaltensbiologische Untersuchung benötigt man allerdings meist nur eine Auswahl dieser Verhaltensweisen – und auch dieser reduzierte Katalog wird heute häufig als Ethogramm bezeichnet (vgl. „ethogram“ in der englischsprachigen Fachliteratur).

Wichtig ist, die Definitionen der Verhaltensweisen in einem Ethogramm an die entsprechenden Gegebenheiten einer Untersuchung anzupassen. Es ergibt keinen Sinn, ein Kriterium zu formulieren, über dessen Erfüllung man letztlich gar keine Aussage treffen kann – sei es, weil die Tiere zu weit entfernt oder die Videoaufnahmen zu unscharf sind.

Beispiel für einen Eintrag in einem Ethogramm

Wie sieht ein Eintrag in einem Ethogramm konkret aus? Für die eingangs beschriebene Beobachtung ließe sich beispielsweise folgende Definition für „Annähern“ formulieren: „Norbert bewegt sich direkt auf ein anderes Tier zu, und verringert dabei den Abstand auf weniger als eine halbe Körperlänge (Norberts Kopf-Rumpf-Länge).“

In dieser Formulierung stecken verschiedene Kriterien, die erfüllt sein müssen, damit Sie die Verhaltensweise zählen:

1. Norbert bewegt sich und verringert dabei seine Distanz zu einem Artgenossen.

2. Die Bewegung erfolgt direkt auf das andere Tier zu.

3. Ein Abstand von einer halben Körperlänge (bezogen auf Norbert) wird unterschritten.

Laut dieser Definition werten Sie es also nicht als „Annähern“, wenn Norbert bloß an einem Artgenossen vorbeiläuft – selbst wenn er ihm dabei sehr nahe kommt (Kriterium 2). Und auch wenn Norbert sich zwar direkt auf ein anderes Tier zu bewegt, aber im Abstand von einer Körperlange stoppt oder umkehrt, zählen Sie die Verhaltensweise nicht (Kriterium 3).

Welche Kriterien man in der Definition festhält, hängt von der untersuchten Tierart und der konkreten Fragestellung ab. Wenn man zum Beispiel untersuchen möchte, wie sich Krankheitserreger in einer Gemeinschaft verbreiten, kann es durchaus Sinn ergeben, das zweite Kriterium herauszulassen. Denn in diesem Fall wäre eventuell relevanter, dass ein Tier seinen Artgenossen nahekommt – unabhängig davon, ob es sich in direkter Linie auf sie zu oder an bloß ihnen vorbei bewegt. Geht man zusätzlich davon aus, dass die Erreger bereits bei einem Abstand von einer Körperlänge übertragen werden, sollte man entsprechend auch das dritte Kriterium anpassen.

Fazit

Beim Ethogramm handelt es sich um einen Katalog verschiedener, exakt definierter Verhaltensweisen einer Tierart. Im engeren Sinne bezeichnet der Begriff eine (möglichst) vollständige Auflistung des Verhaltensrepertoires einer Art. Im weiteren Sinne bezeichnen Forschende damit heute die Gesamtheit der von ihnen in einer bestimmten Untersuchung verwendeten Verhaltensdefinitionen.


Literatur:
Kappeler, P. (2017): Verhaltensbiologie. Springer-Verlag Berlin Heidelberg, 4. Auflage.

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