Ameisen retten verletzten Artgenossen durch Amputationen das Leben

Eine aktuelle Studie zeigt: Wenn eine Florida-Holzameise am Oberschenkel verwundet wird, beißen ihre Koloniemitglieder das Bein oftmals ab. Dadurch erhöhen sich die Überlebenschancen des verletzten Tiers, weil das Risiko sinkt, dass sich Infektionen im Körper ausbreiten.

von Niklas Kästner

Eine Florida-Holzameise befasst sich mit der Wunde einer Artgenossin (Video: Dany Buffat)

Einer kürzlich veröffentlichten Untersuchung zufolge können sich verletzte Matabele-Ameise (Megaponera analis) auf eine professionelle Behandlung verlassen: Ihre Artgenossen versorgen die Wunden mit einem antimikrobiellen Sekret aus ihrer Metapleuraldrüse und verhindern so die Ausbreitung von Infektionen. Doch wie reagieren Ameisenarten auf Verletzungen, denen diese Drüse fehlt? In einer aktuellen Studie gingen Forschende um Erik Frank und Laurent Keller dieser Frage am Beispiel der Florida-Holzameise (Camponotus floridanus) nach – und stießen dabei auf ein faszinierendes Verhalten.

Amputation am Schenkelring

Das Team beobachtete, dass die Ameisen in 76 % der Fälle zu einer radikalen Maßnahme griffen, wenn ein Koloniemitglied am Oberschenkel verletzt worden war: Sie trennten das Bein mithilfe ihrer Mundwerkzeuge am Beinglied direkt oberhalb des Oberschenkels – dem sogenannten Schenkelring – ab. Was hat es mit diesem Vorgehen auf sich? Die Forschenden vermuteten, dass die Amputation einer Ausbreitung von Wundinfektionen im Körper der betroffenen Tiere vorbeugt und so deren Überlebenschancen deutlich verbessert.

Eine Reihe von Experimenten zeigte, dass sie mit ihrer Annahme richtig lagen: Waren Ameisen mit infizierten Oberschenkelwunden von ihren Nestmitgliedern isoliert, war die Erregerkonzentration in ihren Körpern nach anderthalb Tagen deutlich höher als bei Ameisen mit Kontakt zu Artgenossen – und nach drei Tagen waren erheblich mehr von ihnen gestorben. Dabei ging das Ergebnis tatsächlich auf das Abtrennen der Beine zurück: Wenn die Forschenden bei isolierten Tieren selbst eine Amputation am Schenkelring vornahmen, dann waren sowohl ihre Erregerlast als auch ihre Sterberate genauso niedrig wie die von Ameisen mit Kontakt zu Koloniemitgliedern.  

Eine Ameise amputiert das Bein einer verletzten Artgenossin, die von den Forschenden mit einer gelben Markierung versehen wurde. Bei den Tieren handelt es sich um Vertreter der mit den Florida-Holzameisen nah verwandten Art Camponotus maculatus (Video: Dany Buffat)

Auf die Wunde kommt es an

Im Zuge ihrer Untersuchung machten die Forschenden noch eine weitere verblüffende Beobachtung: Die Ameisen amputierten Beine nur, wenn diese eine Oberschenkelwunde aufwiesen – nicht jedoch, wenn sich die Verletzung am Unterschenkel befand. Das liegt Experimenten der Forschenden nicht etwa daran, dass von diesen Wunden ein geringeres Risiko durch Infektionen ausgeht. Im Gegenteil: Offenbar verbreiten sich bei einer Verletzung des Unterschenkels die Erreger wesentlich schneller im Körper der Tiere, sodass es für eine Amputation in den allermeisten Fällen zu spät ist. Das Team stellte fest, dass ein Abtrennen des Beins bereits fünf Minuten nach der Infektion einer Unterschenkelwunde nicht mehr zu einer verringerten Sterberate führte. Im Gegensatz dazu verbesserten Amputationen im Falle von infizierten Oberschenkelwunden auch noch nach 60 Minuten die Überlebenschancen.

Die Rolle der Oberschenkelmuskulatur

Was ist die Ursache dafür, dass den Ameisen bei einer Oberschenkelwunde mehr Zeit bleibt, um eine Ausbreitung der Infektion durch Amputation zu verhindern? Auch dafür haben die Forschenden eine plausible Erklärung: In den Oberschenkeln befindet sich ein Großteil der Muskeln, die für die Zirkulation der Hämolymphe, der Körperflüssigkeit der Insekten, im Bein verantwortlich sind. Das Team vermutet, dass diese Funktion im Fall einer Oberschenkelverletzung beeinträchtigt wird – was zur Folge hat, dass Krankheitserreger sich nicht so rasch im Körper der Tiere ausbreiten.

Übrigens: Die Ameisen überlassen Artgenossen mit Unterschenkelverletzungen keineswegs sich selbst. Statt ihre Beine zu amputieren, belecken sie stattdessen ausdauernd ihre Wunden. Und auch durch diese Maßnahme, die vermutlich der Säuberung dient, schaffen sie es den Ergebnissen der Forschenden zufolge, die Überlebenschancen ihrer Artgenossen merklich zu verbessern.

Zwei Holzameisen der Art Camponotus fellah, bei denen die Forschenden ebenfalls bereits Amputationen beobachten konnten (Foto: Bart Zijlstra)

Fazit

Im Rahmen ihrer Studie sind die Forschenden einem verblüffenden Fall von tierischer Medizin auf die Spur gekommen: Holzameisen beißen verletzte Beine von Artgenossen ab und verhindern so die Ausbreitung von Infektionen. Damit sind sie die ersten nicht-menschlichen Tiere, von denen bekannt ist, dass sie vorsorgliche Amputationen zur Infektionsbekämpfung einsetzen. Darüber hinaus zeigen die Experimente des Teams, dass die Insekten ihre Behandlungsmethode sogar dem Ort der Wunde anpassen – und die Gliedmaßen nur dann abtrennen, wenn dieses Vorgehen Erfolg verspricht.


Zur Fach-Publikation:
Frank, E. T.; Buffat, D.; Liberti, J.; Aibekova, L.; Economo, E. P. & Keller, L. (2024): Wound-dependent leg amputations to combat infections in an ant society. Current Biology.

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