Eine aktuelle Studie zeigt: Hühnerküken, die im Dunkeln schlüpfen, erfühlen die Beschaffenheit von Objekten in ihrer Umgebung – und sind in der Lage, diese unter besseren Lichtbedingungen allein mithilfe ihres Sehsinns wiederzuerkennen.
Wenn wir einen Gegenstand mit einer bestimmten Form gesehen haben, können wir diesen für gewöhnlich auch durch Tasten erkennen (und umgekehrt). Diese Fähigkeit wird als crossmodales bzw. sinnübergreifendes Lernen bezeichnet – und inzwischen wissen wir, dass auch manche unserer tierischen Verwandten darüber verfügen. Offen blieb bislang allerdings, welche Rolle dabei bisherige Sinneserfahrungen spielen: Muss ein Individuum bereits unterschiedliche Dinge gefühlt und gesehen haben, damit es sinnübergreifend lernen kann? Laut einer aktuellen Studie von Forschenden um Elisabetta Versace und Michael Emmerson ist das bei Hühnern nicht der Fall.
Hühnerküken im Dunkeln
Im Rahmen der Untersuchung hielt das Team Hühnerküken ab dem Schlüpfen in abgedunkelten Gehegen. In jedem davon befanden sich zwei Holzwürfel mit einer Kantenlänge von jeweils fünf Zentimetern. Deren Beschaffenheit unterschied sich leicht zwischen den Gehegen: Bei der Hälfte war die Oberfläche der Würfel glatt, bei der anderen Hälfte ragten pro Seite drei Metallbolzen daraus hervor. Das konnten die Küken in der Dunkelheit zwar nicht sehen, wohl aber erfühlen. Und dazu hatten sie offenbar reichlich Gelegenheit: Aufnahmen von Infrarotkameras belegten, dass sie einen Großteil ihrer Zeit in direktem Kontakt mit den Objekten verbrachten.
Hühnerküken im Licht
Nach 24 Stunden im Dunkeln brachten die Forschenden die Küken einzeln in ein beleuchtetes Testgehege. Dort präsentierten sie ihnen jeweils einen Würfel ohne Metallbolzen und einen Würfel mit Metallbolzen. Die Würfel lagen auf Platten, die sich langsam drehten, sodass die Küken sie von allen Seiten sehen konnten. Berühren konnten sie die Objekte allerdings nicht – das verhinderte ein Gitter. Wie würden die Tiere auf die Würfel reagieren?
Bereits in der ersten Minute im Testgehege zeigte sich: Küken, die aus einer Umgebung mit Würfeln ohne Bolzen stammten, hielten sich vermehrt in der Nähe des Würfels ohne Bolzen auf – bei Küken, die aus einer Umgebung mit Würfeln mit Bolzen stammten, war es hingegen genau umgekehrt.
Fazit
Das Ergebnis des Versuchs lässt darauf schließen, dass die Küken die Würfel aus ihrem Heimatgehege mit den Augen erkannten, obwohl sie diese zuvor nur erfühlt hatten. Das zeigt, dass Hühner bereits kurz nach dem Schlüpfen über die Fähigkeit zum sinnübergreifenden Lernen verfügen – und zwar selbst dann, wenn sie mit einem der beteiligten Sinne zuvor noch keine Erfahrungen sammeln konnten. Denn dadurch, dass die Küken im Dunkeln schlüpften, konnten sie ihre Umwelt das erste Mal im Testgehege mit den Augen wahrnehmen.
Zur Fach-Publikation:
Versace, E.; Freeland, L. & Emmerson, M. G. (2024): First-sight recognition of touched objects shows that chicks can solve Molyneux’s problem. Biology Letters.
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