Ratten opferten in einer aktuellen Untersuchung eine Futterbelohnung, wenn sie dadurch einem Artgenossen einen Elektroschock ersparen konnten. Allerdings galt das nicht für alle Individuen gleichermaßen – und es hing von der Größe der Belohnung ab.
Viele Menschen können kaum hinsehen, wenn in einem Film jemand verletzt wird oder aus anderen Gründen starke Schmerzen hat. Das liegt daran, dass bei den meisten schon durch den Anblick einer leidenden Person unangenehme Gefühle ausgelöst werden – sie „leiden mit“. Tatsächlich gibt es auch bei einigen nicht-menschlichen Säugetieren mittlerweile Hinweise darauf, dass sie zu solchen empathischen Reaktionen fähig sind. Eine Studie untersuchte vor diesem Hintergrund, was es für Ratten bedeutet, wenn ein Artgenosse einen Elektroschock erhält. Dazu „befragten“ die Wissenschaftler*innen um Julen Hernandez-Lallement und Christian Keysers die Tiere mittels geschickter Experimente.
Das Experiment
Männliche und weibliche Ratten lernten zunächst, zwei Hebel zu drücken. Diese unterschieden sich lediglich im benötigten Kraftaufwand – als Belohnung gab es in beiden Fällen ein Zucker-Pellet. Ziel war nur, festzustellen, welchen Hebel eine bestimmte Ratte häufiger drückte, also bevorzugte. Bei den meisten war dies der leichter zu drückende Hebel. Diese Information hatte nichts mit der eigentlichen Fragestellung zu tun, war aber wichtig für den nächsten Schritt des Experiments.
Neben dem Abteil mit den Hebeln gab es nämlich noch ein weiteres, das für die Ratten einsehbar war. In dieses wurde nun jeweils ein ihnen bekannter gleichgeschlechtlicher Artgenosse gesetzt. Die Ratten konnten weiterhin beide Hebel drücken und erhielten auch jeweils ein Zucker-Pellet. Allerdings gab es eine entscheidende Änderung: Wann immer sie ihren zuvor identifizierten Lieblingshebel drückten, erhielt der Artgenosse im Nachbarabteil einen kurzen, aber unangenehmen Elektroschock (in einem Zwischenschritt waren die Tiere bereits sebst ins Nachbarabteil gesetzt worden, damit sie die Elektroschocks am eigenen Leib erfuhren). Die Frage hinter diesem Experiment: Würden die Ratten nun häufiger den zuvor nicht präferierten Hebel drücken? Um dafür einen direkten Vergleichswert zu haben, gab es noch eine Kontroll-Gruppe, bei der zwar ein Artgenosse im Nachbarabteil anwesend war, dieser jedoch keine Elektroschocks erhielt.
Das Ergebnis
Tatsächlich ergab sich auf Gruppenebene ein deutlicher Effekt: Unabhängig vom Geschlecht drückten die Tiere unter den Elektroschock-Bedingungen häufiger den zuvor nicht präferierten Hebel als die Tiere aus der Kontrollgruppe. Die Wissenschaftler*innen blieben aber nicht auf der Ebene des Gruppen-Vergleichs, sondern schauten sich auch noch an, wieviele der Ratten unter der Elektroschock-Bedingung ihre individuelle Hebel-Präferenz wirklich grundlegend änderten. Es zeigte sich, dass dies längst nicht auf alle Tiere zutraf, sondern nur auf 9 von insgesamt 24. Interessanterweise waren das genau die Tiere, die auch in ihrem sonstigen Verhalten am Stärksten auf den Schock der Artgenossen reagierten.
Was nehmen Ratten in Kauf, um einen Artgenossen zu verschonen?
Im beschriebenen Experiment mussten die Ratten bloß einen nicht-präferierten Hebel drücken, um Ihren Artgenossen zu verschonen. Die Forscher*innen wollten nun noch wissen, ob die Tiere dafür auch eine Belohnung opfern würden. Da es zuvor keine Geschlechter-Unterschiede gab, beschränkten sie sich bei diesem Versuch auf Männchen.
Auch hier gab es wieder zwei Hebel. Der Kraftaufwand war für beide Hebel der gleiche – dafür war aber die Belohnung unterschiedlich. Für das Drücken des einen Hebels gab es ein Zucker-Pellet, für das Drücken des anderen Hebels bei einigen Ratten zwei, bei anderen drei Zucker-Pellets. Nachdem die Tiere das gelernt hatten, folgte der nächste und entscheidende Schritt des Experiments: Das Drücken des Hebels mit der größeren Belohnung wurde nun an einen Elektroschock für den Artgenossen im Nachbarabteil gekoppelt. Wie reagierten die Ratten?
Wenn der Unterschied zwischen den Hebeln nur ein Zucker-Pellet betrug, verhielten sich die Ratten wie im ersten Versuch. Im Vergleich mit einer Kontrollgruppe drückten sie häufiger den zuvor nicht präferierten Hebel mit der geringeren Belohnung und schonten so den Artgenossen. Bei knapp der Hälfte der Tiere veränderte sich klar die Präferenz. Anders war es allerdings wenn der Unterschied in der Belohnung größer war: Hier drückten alle Ratten weiterhin den stärker belohnten Hebel, ungeachtet der Konsequenzen für den Artgenossen im Nachbarabteil. Die Tiere nahmen also den Verlust von einem Zucker-Pellet in Kauf – aber nicht den von zweien.
Fazit
Die Ergebnisse der Studie legen nahe, dass es auch für Ratten unangenehm ist, einen Artgenossen leiden zu sehen. Sie verzichten sogar auf eine Belohnung, um ihn vor einem Elektroschock zu bewahren. Allerdings wird auch deutlich, dass das längst nicht auf alle Individuen gleichermaßen zutrifft – und dass es von der Größe der geopferten Belohnung abhängt. Welche Schlüsse man aus dieser Studie auch zieht, wichtig ist in jedem Fall eine gewisse Vorsicht. Wir können zwar das Verhalten der Ratten beobachten. Aber was die Tiere in der jeweiligen Situation wirklich empfinden, das bleibt uns verborgen.
Zur Fach-Publikation:
Hernandez-Lallement, J.; Triumph Attah, A.; Soyman, E.; Pinhal, C. M.; Gazzola, V. & Keysers, C. (2020): Harm to others acts as a negative reinforcer in rats. Current Biology 30: 1-13.
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