Alles für die Arterhaltung? Eine hartnäckige, aber falsche Erklärung des Tierverhaltens

Lange nahm man an, Tiere verhielten sich zum Vorteil ihrer Art. Doch diese Sichtweise ist längst überholt. Tiere sind vielmehr darauf ausgelegt, möglichst viele Kopien ihrer eigenen Gene weiterzugeben – unabhängig von den Konsequenzen für ihre Artgenossen.

von Niklas Kästner

Ein Artikel aus unserer Rubrik ETHOlexikon (Foto: Aaron Burden via Unsplash, zugeschnitten und gespiegelt)

Die Natur ist reich an Beispielen für Tiere, die für die Fortpflanzung erstaunliche Opfer bringen: Viele Fische nehmen strapaziöse Wanderungen zu ihren Laichplätzen auf sich, die sie nicht selten mit dem Leben bezahlen; männliche Breitfußbeutelmäuse verausgaben sich während ihrer ersten Paarungszeit derartig, dass sie kurz darauf sterben; und die Weibchen der Röhrenspinne Stegodyphus lineatus lassen sich gar von ihrem Nachwuchs auffressen.

Noch immer wird als Erklärung für solche Phänomene gelegentlich der sogenannte „Arterhaltungstrieb“ angeführt. Dahinter steht die Idee, Tiere besäßen eine innere Motivation, den Fortbestand ihrer eigenen Spezies zu sichern. Doch diese Annahme hat sich bereits vor Jahrzehnten als Irrtum herausgestellt. Das Verhalten von Tieren erfüllt nach dem heutigen Stand der Wissenschaft letztlich nur eine übergeordnete Funktion: Die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass möglichst viele Kopien der eigenen Gene in die nächste Generation gelangen.

Die natürliche Selektion als Schlüssel zum Verständnis

Warum das so ist, wird schnell klar, wenn man sich die Vorgänge im Rahmen der natürlichen Selektion vor Augen führt. Denn Tiere sind, wie alle Lebewesen auf der Erde, das Produkt eines viele Millionen Jahre währenden evolutionären Prozesses – und nur vor diesem Hintergrund lässt sich ihr Verhalten verstehen.

Stellen wir uns also eine Gruppe von Tieren einer bestimmten Art vor. Nehmen wir an, eins dieser Tiere besitzt eine Genvariante, welche dazu führt, dass es im Laufe seines Lebens mehr Nachkommen zeugt als seine Artgenossen mit einer anderen Variante des Gens – beispielsweise, weil es besser vor Fressfeinden flüchten kann, effektiver um Nahrung konkurrieren kann, eine höhere Motivation zur Paarung besitzt oder schlichtweg fruchtbarer ist. Diese Genvariante wird das Tier zumindest an einige seiner Nachkommen weitergeben, woraufhin auch diese sich stärker fortpflanzen werden als ihre Artgenossen. Lässt man dieses Gedankenspiel über mehrere Generationen laufen, stellt man fest: Die im Hinblick auf den Fortpflanzungserfolg vorteilhafte Genvariante wird sich allmählich in der Population ausbreiten. Die Variante des Gens hingegen, welche für den geringeren Fortpflanzungserfolg verantwortlich ist, wird allmählich aus der Population verschwinden.

Gene sorgen für ihre eigene Vermehrung

Genau dieser Ablauf hat sich im Zuge der Evolution unzählige Male wiederholt. Genvarianten, die dazu beigetragen haben, dass sie vergleichsweise häufig in die nächste Generation gelangen, sind erhalten geblieben, und Genvarianten mit dem gegenteiligen Effekt sind verschwunden. Stark vereinfacht ausgedrückt stecken Tiere also voller Erbmaterial, das in der Vergangenheit seine eigene Vermehrung gefördert und sich dabei gegen anderes Erbmaterial durchgesetzt hat.

Dieses genetische Erbe ist der Grund dafür, dass Tiere für gewöhnlich alles daransetzen, Kopien ihrer eigenen Gene weiterzugeben. Und es erklärt, warum sie sich keineswegs stets zum Vorteil ihrer Art verhalten, sondern nicht selten erbittert mit ihren Artgenossen konkurrieren und mitunter sogar deren Jungtiere töten – ein Verhalten, das auch bei Säugetieren keine Seltenheit ist (siehe unten).

Warum Tiere Artgenossen helfen

Wenn ein Individuum aber auf die Weitergabe seiner eigenen Gene ausgelegt ist, wie lässt sich dann erklären, dass Tiere sich nicht in jeder Lebenslage egoistisch verhalten? So gibt es viele Tiere, die ihre Artgenossen vor Gefahren warnen, ihnen Nahrung abgeben oder ihnen sogar bei der Aufzucht des Nachwuchses helfen. Tatsächlich wurde gerade in Zusammenhang mit solchem selbstlosen, in der Biologie als „altruistisch“ bezeichneten Verhalten häufig das Argument der Arterhaltung bemüht – schließlich scheint es dem Fortbestand der Spezies zu nützen. Doch eine genaue Betrachtung zeigt, dass auch dieses Verhalten in letzter Instanz die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass mehr Kopien des sich altruistisch verhaltenden Tiers in die nächste Generation gelangen.

Ziesel warnen einander mit lauten Rufen vor Gefahr – und auch das lässt sich ohne die Annahme eines Arterhaltungstriebs erklären (Foto: Kanashi via Unsplash, zugeschnitten)

Gegenseitige Hilfe

So verhalten sich Tiere im Wesentlichen unter zwei Bedingungen altruistisch. Die erste: Es ergeben sich daraus über kurz oder lang doch Vorteile für sie. Das ist u.a. dann der Fall, wenn sich der Empfänger des altruistischen Verhaltens später dafür revanchiert. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von reziprokem, d.h. gegenseitigem Altruismus. Ein Beispiel dafür findet sich beim Gemeinen Vampir (Desmodus rotundus): Die Weibchen dieser Fledermausart geben eng vertrauten Artgenossinnen, die keinen Erfolg bei der Nahrungssuche hatten, einen Teil des von ihnen erbeuteten Blutes ab – wobei die Menge abhängig davon steigt, wie viel Hilfe sie selbst zuvor in einer ähnlichen Lage von dieser Artgenossin erhalten haben.  

Hilfe unter Verwandten

Die zweite Bedingung, unter der Tiere einander helfen: Es handelt sich beim Empfänger der Hilfe um einen Verwandten. In diesem Fall teilen die Tiere – je nach Verwandtschaftsgrad – einen gewissen Anteil ihres Erbmaterials. Trägt das eine Tier also dazu bei, dass sich das andere Tier erfolgreicher fortpflanzt, sorgt es dadurch indirekt dafür, dass mehr Kopien seiner eigenen Gene weitergegeben werden. Dabei hilft ein Tier einem anderen umso eher, je näher es mit diesem verwandt ist, je größer der daraus erwachsende Nutzen für den Empfänger der Hilfe ist und je geringer die Kosten für das Tier sind, von dem die Hilfe ausgeht.

Ein Beispiel für ein solches altruistisches Verhalten unter Verwandten ist die große Hilfsbereitschaft innerhalb von Erdmännchengruppen (Suricata suricatta). Nicht nur warnen die meist eng verwandten Tiere einander gegenseitig vor Fressfeinden. Es kümmern sich auch alle erwachsenen Tiere gemeinschaftlich um die Aufzucht der Jungtiere in der Gruppe, was unter anderem das Versorgen mit Nahrung umfasst.

Hilfe unter Verwandten und das Kosten-Nutzen-Verhältnis

Dass es auch in diesem Fall um die Weitergabe von Kopien der eigenen Gene geht und nicht etwa um den Fortbestand der Art, wird u.a. daran deutlich, dass sich das Verhalten weiblicher Erdmännchen dramatisch verändert, wenn sie selbst Nachwuchs erwarten: Werden dann in der Gruppe Jungtiere geboren, kommt es nicht selten vor, dass ein trächtiges Weibchen diese tötet. Denn sein eigener Nachwuchs, mit dem es deutlich mehr Gene teilt, müsste ansonsten mit den anderen Jungtieren um Nahrung konkurrieren – und hätte aufgrund seines späteren Geburtstermins die schlechteren Karten. Das Kosten-Nutzen-Verhältnis des altruistischen Verhaltens verschiebt sich demnach in Richtung der Kosten und es kommt anstelle der üblichen Hilfsbereitschaft zur Tötung der Jungtiere.

Fazit

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die lange verbreitete Annahme, Tiere besäßen einen Arterhaltungstrieb, hat sich klar als Irrtum herausgestellt. Sie lässt sich nicht mit ihrer evolutionären Geschichte in Einklang bringen.

Vielmehr dient das Verhalten eines Individuums in letzter Instanz nur der Weitergabe von möglichst vielen Kopien seiner eigenen Gene, und zwar unabhängig davon, ob es seiner Art als Ganzes nützt oder schadet. Das erklärt auch, warum sich Tiere gegenüber ihren Artgenossen nur unter ganz bestimmten Bedingungen hilfsbereit verhalten – und warum sie diese unter anderen Bedingungen verletzen oder töten.


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