Kluge Vögel – Keas können Wahrscheinlichkeiten abschätzen

Statistische Schlüsse zu ziehen galt lange als ein Alleinstellungsmerkmal des Menschen. Dann entdeckte man, dass auch Menschenaffen dazu in der Lage sind. Nun wurde diese Fähigkeit erstmals auch bei einer Vogelart nachgewiesen.

von Niklas Kästner

Keas  können Wahrscheinlichkeiten abschätzen
Kluger Vogel – der neuseeländische Kea (Foto: Pablo Heimplatz via Unsplash)

Stellen Sie sich vor, Sie nehmen an einem Gewinnspiel teil. Vor Ihnen stehen zwei große Gläser, gefüllt mit silbernen und goldenen Kugeln. Sie dürfen mit verbundenen Augen aus einem davon eine Kugel ziehen – eine goldene Kugel bringt den Millionengewinn, eine silberne Kugel bedeutet, Sie gehen leer aus. Im linken Glas befindet sich nur eine goldene Kugel, im rechten Glas befinden sich fünf. Dafür gibt es im linken Glas aber auch nur eine silberne Kugel, im rechten jedoch fünfzehn. Aus welchem Glas würden Sie ziehen? Ich vermute, Sie würden sich ganz intuitiv für das linke entscheiden – dort gibt es zwar nicht so viele goldene Kugeln wie im rechten, aber die Chance, dass Sie eine erwischen, ist doppelt so hoch.

Die Fähigkeit derartige Wahrscheinlichkeiten einzuschätzen ist für uns selbstverständlich. Im Tierreich wurde sie bisher aber nur bei Menschenaffen überzeugend gezeigt. Nun konnte sie erstmalig auch bei einer Vogelart nachgewiesen werden: dem neuseeländischen Kea (Nestor notabilis). Dazu führten die Wissenschaftlerin Amalia Bastos und ihr Kollege Alex Taylor eine Reihe von Experimenten durch.

Verstehen Keas Wahrscheinlichkeiten?

Insgesamt nahmen sechs Keas an der Studie teil (tatsächlich kann man in diesem Fall von einer Teilnahme sprechen, da das Experiment in der Voliere der Vögel und vollkommen freiwillig stattfand). Die Keas lernten zunächst, zwei verschiedene Objekte zu unterscheiden, ein schwarzes und ein orangefarbenes. Eine Experimentatorin griff mit einer Hand in ein Glas voller orangefarbener Objekte, und mit der anderen Hand in ein Glas voller schwarzer Objekte. Die Keas wählten nun eine der beiden geschlossenen Hände. Befand sich darin ein schwarzes Objekt, konnten sie es gegen eine Futterbelohnung eintauschen. Befand sich darin ein orangefarbenes Objekt, bekamen sie nichts.

Hatten die Keas das erfolgreich gelernt, begann der eigentliche Versuch. Dazu wurden zwei neue Gläser aufgestellt. Eins davon enthielt 100 schwarze und 20 orangefarbene Objekte (d. h. über 80 Prozent belohnte). Das andere enthielt 20 schwarze und 100 orangefarbene Objekte (d. h. über 80 Prozent nicht-belohnte). Die Experimentatorin griff mit jeweils einer Hand in eins der Gläser und zog ein Objekt. Die Vögel mussten nun eine Hand auswählen, ohne dass sie sehen konnten, welches Objekt gezogen worden war. Dieser Ablauf wurde zwanzig Mal wiederholt. Wenn ein Kea eine Vorstellung davon hat, welches Glas bessere Chancen für ihn bereit hält, sollte er die Hände nicht zufällig auswählen, sondern während der zwanzig Durchläufe eine klare Präferenz für das Glas mit dem höheren Anteil an belohnten Objekten zeigen. Tatsächlich war genau das bei drei der sechs Keas der Fall. Die übrigen wählten zufällig. Doch in weiteren Durchläufen lernten auch sie die richtige Hand bzw. das richtige Glas zu wählen.

Wichtige Kontrollbedingungen

Drei Keas wählten also spontan richtig, und nach einigen Durchläufen sogar alle sechs. Aber bedeutet das wirklich, dass die Vögel eine Vorstellung von Wahrscheinlichkeiten haben? Kann es nicht sein, dass sie einfach das Glas wählten, das mehr belohnte Objekte enthielt? Oder das Glas, das weniger nicht-belohnte Objekte enthielt? Diese Alternativerklärungen überprüfte das Team in zwei Kontrollbedingungen.

In der ersten Kontrollbedingung enthielten beide Gläser gleich viele schwarze, d. h. belohnte Objekte, aber unterschiedlich viele orangefarbene. Vier der sechs Keas zeigten eine klare Präferenz für das Glas mit dem höheren Anteil an schwarzen Objekten. So ließ sich ausschließen, dass sie im ersten Versuchsteil einfach das Glas mit mehr belohnten Objekten gewählt hatten.

Im der zweiten Kontrollbedingung enthielten beide Gläser gleich viele orangefarbene, d. h. nicht-belohnte Objekte, aber unterschiedlich viele schwarze. Jetzt zeigten sogar alle sechs Keas eine klare Präferenz für das Glas mit dem höheren Anteil an schwarzen Objekten. So ließ sich auch ausschließen, dass ihre Strategie im ersten Versuchsteil war, das Glas mit weniger nicht-belohnten Objekten zu wählen.

Können Keas weitere Informationen mit in ihre „Berechnungen“ einbeziehen?

Noch erstaunlicher ist das Ergebnis eines weiteren Experiments, das Bastos und Taylor durchführten. Dabei ging es für die Keas darum, soziale Informationen in ihre Entscheidung mit einzubeziehen. Nun zog nicht mehr eine Experimentatorin mit zwei Händen, sondern es zogen zwei Experimentatorinnen mit jeweils einer Hand. Die eine Experimentatorin griff, ohne hinzuschauen, in ein Glas mit hundert schwarzen und zehn orangefarbenen Objekten. Die andere Experimentatorin griff, während sie genau hinsah, in ein Glas mit hundert orangefarbenen und zehn schwarzen Objekten. Beide Experimentatorinnen zogen allerdings immer schwarze, d. h. belohnte Objekte. Würde den Papageien auffallen, dass die zweite Experimentatorin nicht zufällig zog, sondern bewusst die belohnten Objekte auswählte?

Um das zu untersuchen zogen in einem nächsten Schritt die beiden Experimentatorinnen (unter Beibehaltung ihrer Zieh-Taktik) jeweils zwanzig Mal aus einem Glas mit gleicher Anzahl schwarzer und orangefarbener Objekte. Ohne die soziale Information des vorhergehenden Schritts wäre die Erfolgschance für die Vögel bei beiden Experimentatorinnen gleich. Doch tatsächlich zeigten drei der sechs Keas eine klare Präferenz für die Hand der Experimentatorin, die zuvor trotz geringer Wahrscheinlichkeit die belohnten Objekte gezogen hatte. Sie schienen also wirklich gemerkt zu haben, dass sie eine besonders hohe Trefferquote hatte.

Fazit

Vor einigen Jahrzehnten noch hat man Vögeln keine großen Denkleistungen zugetraut. Ihr Gehirn ist etwas anders aufgebaut als das von Säugetieren – das reichte aus, um nicht viel von ihnen zu erwarten. Mittlerweile wird immer deutlicher, wie falsch man lag. Besonders Rabenvögel und Papageien müssen sich hinsichtlich ihrer kognitiven Leistungen nicht hinter Säugetieren verstecken. Die Studie von Bastos und Taylor erbringt dafür einen neuen und beeindruckenden Beweis.  


Zur Fach-Publikation:
Bastos, A. P. M. & Taylor, A. H. (2020): Kea show three signatures of domain-general statistical inference. Nature Communications 11: 828.

Weitere Literatur:
Eckert, J.; Rakoczy, H.; Call, J.; Herrmann, E. & Hanus, D. (2018): Chimpanzees consider humans’ psychological states when drawing statistical inferences. Current Biology, 28: 1959-1963.

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