Der sogenannte Marshmallow-Test gibt Aufschluss über die Selbstbeherrschung von Kindern. In entsprechend abgewandelter Form lässt er sich auch mit Tieren durchführen. Das jüngste Beispiel: Tintenfische lassen eine kleine Belohnung unberührt, um später eine attraktivere zu erhalten.
Der „Marshmallow-Test“ ist eins der bekanntesten Experimente aus der psychologischen Forschung. Dabei haben Kinder die Wahl: Sie können geduldig auf zwei Marshmallows warten – oder ein Zeichen geben und umgehend ein Marshmallow erhalten. Wie lange sie das Warten aushalten, gibt dabei Aufschluss über den Grad ihrer Selbstbeherrschung.
In einer aktuellen Studie haben Forschende ein vergleichbares Experiment mit heranwachsenden Tintenfischen (Sepia officinalis) durchgeführt. Es zeigte sich: Auch sie lassen eine Belohnung links liegen, wenn sie dafür später eine attraktivere ergattern können.
Das Training: Die Bedeutung verschiedener Symbole
Bevor das Forschungsteam um Alexandra Schnell, Nicola Clayton und Roger Hanlon die Selbstbeherrschung der Tintenfische untersuchen konnte, war zunächst ein Training nötig – denn im Gegensatz zu Kindern kann man Tieren den Ablauf des Tests nicht einfach erklären. Zu Beginn lernten die Tintenfische, drei Symbole voneinander zu unterscheiden. Dazu wurden sie in ein Aquarium gesetzt, mit Blick auf eine Kammer, in der sich stets eine Belohnung befand. Ob und wann sie diese ergattern konnten, verriet ihnen ein Symbol auf der Rückwand: Sahen sie einen Kreis, war die Belohnung sofort zugänglich. Sahen sie ein Dreieck, öffnete sich erst nach einigen Sekunden eine durchsichtige Schiebetür, die sie von der Belohnung trennte. Sahen sie ein Quadrat, öffnete sich die durchsichtige Schiebetür ebenfalls nach einigen Sekunden – dahinter befand sich aber eine zweite, die verschlossen blieb. Die Symbole verrieten den Tieren also, ob sie die Belohnung sofort, erst nach einer Verzögerung oder nie ergattern konnten.
Im nächsten Trainingsschritt sahen die Tintenfische nicht mehr nur eine Kammer, sondern zwei – diesmal ohne Symbole. In beiden Kammern befand sich jeweils eine sofort zugängliche Belohnung. Sobald ein Tier sich einer Kammer näherte, entfernte das Team die Belohnung in der anderen Kammer. Das Ziel dieses Trainingsschritt: Die Tintenfische sollten lernen, dass sie sich für eine Seite entscheiden müssen, wenn sie zwei Kammern sehen – und nicht nacheinander beide Belohnungen ergattern können.
Der Test: Kreis versus Dreieck
Im eigentlichen Test durften die Tintenfische wiederum zwischen zwei Kammern wählen. Diesmal enthielten diese aber unterschiedlich attraktive Belohnungen und trugen zusätzlich Symbole auf der Rückwand. In der mit einem Kreis markierten Kammer befand sich ein sofort zugängliches Stück Garnele. In der anderen mit einem Dreieck markierten Kammer befand sich eine lebende Garnele, die erst nach einer Verzögerung zugänglich war. Durch Wahlversuche hatten die Forschenden zuvor festgestellt, dass die Tintenfische letztere deutlich bevorzugten.
Das Ergebnis des Tests: Tatsächlich verzichteten die Tintenfische meist auf das sofort zugängliche Stück Garnele und warteten stattdessen geduldig, bis der Weg zur lebenden Beute frei wurde. In den folgenden Durchgängen konnten die Forschenden die Dauer, bis sich die Schiebetür zu der attraktiven Belohnung öffnete, von anfänglich 10 Sekunden erheblich ausdehnen: Selbst der „ungeduldigste“ Tintenfisch verlor seine Selbstbeherrschung erst bei einer Verzögerung von mehr als 50 Sekunden – und der „geduldigste“ hielt sogar 130 Sekunden durch.
Die Kontrolle: Kreis versus Quadrat
Der Ausgang des Tests ist zweifelsohne beeindruckend. Er verrät aber noch nicht, ob die Tintenfische wirklich die Bedeutung der Symbole kannten – oder ob sie einfach gelernt hatten, die Entscheidung für eine Kammer möglichst lange hinauszuzögern.
Das überprüften die Forschenden mit Kontrolldurchgängen, in denen die Tintenfische erneut in einer Kammer mit Kreis das sofort zugängliche Stück Garnele sahen. In der anderen befand sich wie im Test eine lebende Garnele – allerdings war die Kammer diesmal mit dem Quadrat markiert. Die Schiebetür öffnete sich entsprechend nach einer Verzögerung – der Zugang blieb aber von einer zweiten Schiebetür versperrt.
Das Ergebnis: Anders als im Test warteten die Tintenfische nicht, bis sich die Schiebetür der Kammer mit der lebenden Beute öffnete – sondern schnappten sich umgehend das Stück Garnele in der anderen Kammer. Sie wussten also anscheinend, dass sich das Warten in diesem Fall nicht lohnen würde.
Fazit
Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass die Tintenfische die Bedeutung der Symbole verstanden hatten: Sie verschmähten das Stück Garnele nur dann, wenn sie später eine attraktivere Belohnung ergattern konnten. So belegt der Versuch eindrucksvoll, dass Tintenfische zur Selbstbeherrschung in der Lage sind, wenn es sich für sie lohnt. Die Wissenschaftler*innen vermuten, dass diese Fähigkeit ihnen auch unter natürlichen Bedingungen bei der Nahrungsbeschaffung hilft: Tintenfische lauern ihren Beutetieren oftmals gut getarnt auf – dabei könnte es für sie von Vorteil sein, sich so lange zu beherrschen, bis sich eine lohnende Beute in optimaler Reichweite befindet.
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