Bäume „rufen“ Hornissen zum Samentransport

Haben sich die Fruchtkapseln einer chinesischen Baumart geöffnet, müssen ihre empfindlichen Samen rasch an einen schattigen Keimplatz gelangen. Den Transport dorthin übernehmen einer aktuellen Studie zufolge Hornissen, die von den Pflanzen mit Duftstoffen angelockt werden.

von Niklas Kästner

Eine Hornisse bearbeitet einen Samen des Baums Aquilaria sinensis
Eine Hornisse bearbeitet einen Samen des Baums Aquilaria sinensis (Foto: Qin et al. 2022, Current Biology, zugeschnitten)

„Schüttel mich, schüttel mich, wir Äpfel sind alle miteinander reif!“, ruft ein Baum im Märchen „Frau Holle“. Ob die Gebrüder Grimm sich beim Niederschreiben der Erzählung wohl hätten träumen lassen, dass es tatsächlich Pflanzen gibt, die um rasche Ernte bitten? Denn genau das tun einer aktuellen Untersuchung zufolge Bäume im südwestlichen China: Sie setzen Duftstoffe frei, die Hornissen anlocken – welche die durch Austrocknung gefährdeten Samen umgehend an einen geeigneten Ort zum Keimen transportieren.

Samenernte durch Hornissen

Wenn sich die Fruchtkapseln der Baumart Aquilaria sinensis öffnen, geben sie zwei an dünnen Strukturen hängende Samen frei. Wie ein Forschungsteam um Rui-Min Qin und Jin Chen in der Studie beschreibt, erscheinen kurz darauf Hornissen zur „Ernte“: Sie trennen die Samen ab und tragen sie fort, um in der Nähe ihres Nestes deren Elaiosom, ein fleischiges Anhängsel, zu verspeisen. Anschließend lassen sie die Samen zu Boden fallen, wo diese meist optimale Bedingungen zum Keimen vorfinden. Denn sie gedeihen am besten im Schatten – und die Hornissennester befinden sich üblicherweise in großen Bäumen.  

Hornissen fliegen freihängende Samen des Baums Aquilaria sinensis an und trennen sie ab (Video: Qin et al. 2022, Current Biology)

Duftstoffe locken Hornissen an

Das Team stellte fest, dass die Hornissen fast 90 Prozent der Samen bereits innerhalb der ersten Stunde nach dem Öffnen der Früchte abtransportierten. Diese hohe Geschwindigkeit ist offenbar wichtig. Denn die empfindlichen Samen ertragen die Hitze im Blätterdach nicht lange: Sie trocknen zunehmend aus und sind bereits nach acht Stunden nicht mehr keimfähig.

Doch wie werden die Hornissen so schnell auf die freigelegten Samen aufmerksam? Verantwortlich dafür ist der Studie zufolge ein Cocktail aus 17 verschiedenen Duftstoffen, den die Fruchtkapseln aussenden: In verschiedenen Verhaltensexperimenten konnten die Forschenden zeigen, dass dieser die Insekten anzieht.

Fazit

Die Studie enthüllt einen faszinierenden Mechanismus zur Samenverbreitung bei Aquilaria sinensis: Von den reifen Früchten ausgesandte Duftstoffe locken Hornissen an, welche die empfindlichen Samen rasch ernten und meist an einem geeigneten Keimplatz fallen lassen. Interessanterweise gleichen die dabei freigesetzten Substanzen einem anderen chemischen Signal der Bäume. Dieses senden sie aus, um Hornissen und andere fleischfressende Insekten anzulocken, wenn Raupen sich an ihren Blättern zu schaffen machen. Die Forschenden vermuten deshalb, dass sich die außergewöhnliche Verbreitungsstrategie der Bäume im Verlauf der Evolution aus dem Verteidigungsmechanismus entwickelt hat. Das charakteristische Aussehen der Samen würde dazu passen: Sie erinnern an Raupen, die an einem Seidenfaden hängen.


Zur Fach-Publikation:
Qin, R.-M.; Wen, P.; Corlett, R. T:; Zhang, Y.; Wang, G. & Chen, J. (2022): Plant-defense mimicry facilitates rapid dispersal of short-lived seeds by hornets. Current Biology 32.

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