Der letzte Schrei: Wie ein Vogeldialekt einen ganzen Kontinent in ungeahntem Tempo erobert

Vögel singen oftmals je nach Region in verschiedenen Dialekten. Eine aktuelle Studie zeigt, wie sich bei Weißkehlammern eine zuvor seltene Melodie in wenigen Jahren über den nordamerikanischen Kontinent ausbreitete und dadurch die traditionelle Variante verdrängte.

von Tobias Zimmermann

Eine Weißkehlammer (Foto: Eduardo Bergen via Unsplash, zugeschnitten)

Die meisten Singvögel zeichnen sich durch einen arttypischen Gesang aus. Wie wir Menschen “sprechen” allerdings auch Vögel Dialekte: Der Gesang einer Art unterscheidet sich teils erheblich zwischen verschiedenen Verbreitungsgebieten.

Lange wurde angenommen, dass sich die einzelnen Dialekte nur sehr langsam verändern und die regionalen Unterschiede somit über lange Zeiträume stabil sind. Bis zur kürzlich veröffentlichten Studie eines Forschungsteam um die Wissenschaftler Ken Otter und Scott Ramsay: In den letzten 20 Jahren verfolgten die Forschenden die Gesänge männlicher Weißkehlammern (Zonotrichia albicollis) in Nordamerika. Dabei entdeckten sie, dass eine Melodie, die ursprünglich auf ein kleines Gebiet im Westen Kanadas begrenzt war, in dieser Zeit nahezu den ganzen Kontinent eroberte.

Die Studie

Die Wissenschaftler*innen analysierten über 1.700 aufgezeichnete Gesänge männlicher Weißkehlammern aus deren natürlichem Verbreitungsgebiet. Neben eigenen Aufzeichnungen nutzten sie dafür auch private Tonaufnahmen aus Online-Datenbanken, die bis in die 1960er Jahre zurückreichten. Zu dieser Zeit zwitscherten Weißkehlammern in ganz Kanada einen Gesang, der mit der Wiederholung einer dreifachen Tonfolge endet. In der Folgezeit etablierte sich im äußersten Westen des Landes allerdings eine neuartige Melodie, an deren Ende die Vögel lediglich eine doppelte Tonfolge wiederholen.

Die beiden Dialekte der Weißkehlammern (Video: Scott M. Ramsay)

Eine neue Melodie breitet sich aus

Was als regionaler Dialekt begann, hatte Anfang der 2000er Jahre den Weg über die Rocky Mountains gefunden. Im Jahr 2004 sang in der Provinz Alberta östlich des Hochgebirges nur noch etwa die Hälfte der Männchen die „traditionelle“ Melodie mit der dreifachen Tonfolge. Bereits 2010 hatten alle Männchen in der gesamten Westhälfte Kanadas den neuen Gesang mit der doppelten Tonfolge übernommen.

Doch auch dort machte der Trend nicht Halt: Im Jahr 2019 zwitscherten die ersten Männchen den neuen Gesang sogar in der Provinz Quebec im Osten Kanadas – und damit über 3.000 km von seinem Ursprungsort entfernt.    

Weitergabe im Winterquartier

Wie bei Singvögeln üblich, erlernen männliche Weißkehlammern ihren Gesang in frühen Lebensphasen, indem sie ihren Artgenossen lauschen. Auf diese Weise übernehmen sie vereinzelt auch fremde Dialekte aus angrenzenden Gebieten. Die Wissenschaftler*innen standen allerdings vor dem Rätsel, wie sich die neue Melodie in solch beispielloser Geschwindigkeit über so große Entfernungen ausbreiten konnte. Sie fragten sich, ob die Vögel aus den verschiedenen Gebieten möglicherweise in ihren Winterquartieren aufeinandertrafen. Um dem nachzugehen, versahen sie einige Männchen mit einem kleinen Messgerät, mit dem sie ihre Zugrouten verfolgten.

Das Ergebnis bestätigte die Vermutung: Vögel aus den westlichen Populationen überwinterten tatsächlich in den gleichen Gebieten wie Vögel aus den östlichen Populationen. Somit spricht vieles dafür, dass sich junge Männchen aus dem Osten dort das neue Liedgut aus dem Westen aneigneten und anschließend in ihre jeweiligen Brutgebiete „einschleppten“.

Fazit

Die Studie zeigt eindrucksvoll, wie sich ein seltener Dialekt von Weißkehlammern in etwa 20 Jahren beinahe über den gesamten nordamerikanischen Kontinent ausbreitete. Damit verdrängte er den traditionellen Gesang, der dort über viele Jahrzehnte etabliert war.

Bleibt die Frage, warum die überwältigende Mehrheit der Männchen den neuen Gesang überhaupt übernahmen. Otter und sein Team vermuten, dass Weibchen möglicherweise Gesänge mit neuen Elementen bevorzugen. Somit wäre es für Männchen äußerst vorteilhaft, den fremden Dialekt zu singen. Ob das wirklich zutrifft, gilt es in zukünftigen Studien zu überprüfen.


Zur Fach-Publikation:
Otter, K. A.; Mckenna, A.; LaZerte, S. A.; & Ramsay, S. M. (2020): Continent-wide shifts in song dialects of white-throated sparrows. Current Biology 30, 1–5.

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