Überschätzte Tänze? Ein neuer Blick auf die Sprache der Bienen

Mit ihren Schwänzeltänzen verraten Honigbienen ihren Artgenossen die exakte Position von Nahrungsquellen – diese Aussage findet sich so oder so ähnlich in vielen Lehrbüchern. In seinem Buch „Die Sprache der Bienen“ meldet der Forscher Jürgen Tautz begründete Zweifel daran an.

von Niklas Kästner

Meisterinnen der Orientierung: Honigbienen
Meisterinnen der Orientierung: Honigbienen (Foto: TerriAnneAllen via Pixabay)

Haben Honigbienen eine lohnende Nahrungsquelle entdeckt, kann man sie nach der Rückkehr in den Stock mitunter tanzen sehen: immer wieder laufen sie stark schwänzelnd über die Waben und kehren dann in einem Halbkreis zu ihrem Ausgangspunkt zurück. Der Wissenschaftler Karl von Frisch entdeckte, dass die Bienen auf diese Weise Informationen darüber vermitteln, wo sich der zuvor besuchte Ort befindet. Für die Erforschung dieses bemerkenswerten Verhaltens wurde er im Jahr 1973 mit einem Nobelpreis ausgezeichnet.

Die gängige Darstellung der Tanzsprache

In sogenannten Fächer- und Stufenversuchen konnte von Frisch zeigen, wie sich aus den Tänzen die Position einer Nahrungsquelle ableiten lässt: Die Richtung ergibt sich dabei aus der Ausrichtung der Schwänzelphase, die Entfernung aus ihrer Dauer. Indem andere Bienen die Tänze beobachten und nachahmen, eignen sie sich die übermittelten Informationen an.

Diese „Tanzsprache“ der Bienen hat es inzwischen in viele Schul- und Lehrbücher geschafft. Dabei hat sich die Ansicht verfestigt, die Tänze enthielten sehr präzise Ortsangaben, mit deren Hilfe die Beobachterinnen selbst kilometerweit entfernte Blüten ohne weitere Hinweise finden.

Zweifel an der Genauigkeit der Tanzsprache

Der Bienenforscher Jürgen Tautz meldet in seinem Buch Zweifel an der gängigen Darstellung der namensgebenden „Sprache der Bienen“ an. Er stellt die Interpretation der Schwänzeltänze nicht grundsätzlich in Frage – vielmehr sieht er sie durch verschiedene Forschungsarbeiten eindeutig belegt. Doch dass eine Biene allein anhand der Informationen aus den Tänzen in der Lage ist, eine Nahrungsquelle zu finden, hält er für einen Fehlschluss.

Anhand verschiedener Forschungsergebnisse zeigt Tautz, dass die Schwänzeltänze wesentlich weniger genau sind, als oft angenommen wird. Selbst innerhalb eines einzigen Tanzes weichen die einzelnen Schwänzelphasen hinsichtlich ihrer Ausrichtung voneinander ab. Wissenschaftler*innen könnten aus einer hohen Zahl an beobachteten Tänzen zwar tatsächlich recht konkrete Ortsangaben ableiten. Einer einzelnen Biene gelänge das aber kaum – unter anderem da sie häufig nur einige Runden der Tänze sieht. Entsprechend geht Tautz davon aus, dass es außerhalb des Stocks weitere Hinweise geben muss, an denen die Bienen sich orientieren, doch seien diese bisher kaum erforscht.

Ein Phasenmodell der Fernorientierung

Tautz schlägt ein Modell zur Erklärung der beeindruckenden Orientierungsleistungen der Bienen vor, das von der gängigen Darstellung abweicht. Seiner Annahme zufolge durchlaufen die Bienen bei der Suche nach der von einer Tänzerin angezeigten Nahrungsquelle drei Phasen.

Im ersten Schritt der Orientierung entnehmen die Bienen den Schwänzeltänzen einer Artgenossin die grobe Lage der Nahrungsquelle (Phase 1: „Schicken“). Anhand dieser Informationen erreichen die Bienen ein Suchareal, in dem sie auf weitere Hinweise angewiesen sind (Phase 2: „Suchen“). Verschiedene Reize, wie fliegende Artgenossinnen oder Düfte, lenken die Bienen letztlich zur Nahrungsquelle (Phase 3: „Locken“).

Hier können Sie eine grafisch aufbereitete Gegenüberstellung des alten und neuen Modells zur Bienenkommunikation mit englischen Erläuterungen herunterladen (© SPRINGERnature/Tautz).

Wissenschaftliche Arbeiten haben sich laut Tautz bislang vor allem mit der ersten Phase der Orientierung auseinandergesetzt – und ihre Bedeutung deshalb überschätzt. In Bezug auf die folgenden beiden Phasen spricht er entsprechend von einem „blinden Fleck“ der Forschung.

Fazit

Auf über 200 Seiten erläutert Tautz in seinem Buch anschaulich, warum er sein Phasenmodell für besser geeignet hält, das Verhalten der Bienen zu erklären, als das gängige Modell einer präzisen Tanzsprache. Dabei nimmt er die Leser*innen mit auf eine Reise durch die Geschichte der Bienenforschung – und liefert gute Argumente für einen neuen Blick auf die Sprache der Bienen.

Doch Tautz‘ Buch besticht noch in anderer Hinsicht. Er befasst sich darin auch umfassend mit der Frage, was zu der von ihm postulierten Überschätzung der Bedeutung der Bienentänze geführt hat. Dadurch gibt er einen spannenden Einblick in die Abläufe wissenschaftlicher Forschung – und vermittelt ein Gefühl für die Faktoren, die das Entstehen von blinden Flecken begünstigen können.    


Jürgen Tautz: Die Sprache der Bienen

Gebunden mit Lesebändchen; 256 Seiten mit 20 farbigen Abbildungen und 30 Illustrationen.

Preis: 22 € [D] bzw. 22,70 € [A]
ISBN 978-3-95728-503-4

Transparenzhinweis:
Wir haben vom Knesebeck Verlag ein kostenloses Rezensionsexemplar des Buchs erhalten. Das hatte aber keinen Einfluss auf den Inhalt des Artikels.

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