Hirsch oder Kojote? Kälber erkennen Raubtiergeruch

Viele Tiere erkennen den Geruch von Raubtieren. Oftmals ist diese Fähigkeit angeboren. Eine aktuelle Studie zeigt, dass dies auch für Hausrinder gilt. Bereits kurz nach der Geburt reagieren Kälber beunruhigt auf den Geruch möglicher Feinde.

von Niklas Kästner

Eine Szene aus dem Versuch: Ein Jersey-Kalb erschrickt (Video: Sarah Adcock)

Viele Wildtiere erkennen den Geruch gefährlicher Raubtiere und reagieren darauf durch erhöhte Aufmerksamkeit oder Flucht. Oft ist diese Reaktion angeboren – sie ist im Zuge der Evolution durch die natürliche Selektion genetisch verankert worden und muss nicht erst erlernt werden.

Bei Haustieren hat die Zuchtwahl durch den Menschen die natürliche Selektion ersetzt. Gleichzeitig spielt die Bedrohung durch natürliche Raubfeinde selten eine Rolle in ihrem Leben. So auch bei den Hausrindern. Eine aktuelle Studie zeigt, dass die Tiere trotz des jahrtausendelangen Domestikationsprozesses eine angeborene „Feinderkennung“ besitzen: Bereits wenige Wochen alte Kälber reagieren auf Raubtiergeruch. 

Die Studie

Die Wissenschaftlerinnen Sarah Adcock und Cassandra Tucker führten ein Experiment mit etwa zwei Wochen alten Kälbern der Rassen Holstein und Jersey durch. Die Tiere wurden einzeln in eine ihnen bereits bekannte, geräumige Box gelassen. An einer der Wände befand sich ein Futterspender mit einer Portion Milch. Außerhalb der Box hatten die Forscherinnen zwei mit Flüssigkeit gefüllte Wannen aufgestellt. Den daraus entströmenden Geruch leiteten sie mit Hilfe von zwei Ventilatoren in die Box hinein. Bei einem Drittel der Kälber handelte es sich bei der Flüssigkeit um den Urin von Kojoten, also einer Raubtierart. Bei einem weiteren Drittel enthielten die Wannen den Urin von für die Kälber ungefährlichen Weißwedelhirschen. Beim Rest befand sich darin Wasser.

Insgesamt wurden die Tiere an drei aufeinanderfolgenden Tagen in die Box gelassen, wobei die jeweilige Flüssigkeit in den Wannen bei jedem Kalb an allen Tagen gleich blieb. Die Forscherinnen beobachteten, ob der Geruch das Verhalten der Kälber in der Box beeinflusste.

Kälber erkennen Raubtiergeruch
Einer der „Studienteilnehmer“ (Foto: Sarah Adcock)

Das Ergebnis

Tatsächlich gab es deutliche Unterschiede im Verhalten der Kälber abhängig vom verströmten Geruch. Die Tiere, bei denen die Box nach Kojoten roch, brauchten im Vergleich zu den anderen Tieren doppelt so lang bis sie sich der Futterstation näherten und dreimal so lange bis sie zu fressen begannen.

Sobald ein Kalb den Kopf zum Fressen gesenkt hatte, spielten die Forscherinnen direkt an der Futterstation ein kurzes lautes Geräusch ab und maßen die Reaktion des Tiers (siehe Video). Auch hier ergab sich ein Unterschied zwischen den Gruppen: Der Kojotengeruch führte im Vergleich zu den anderen Bedingungen zu einer deutlich stärkeren Schreckreaktion.

Zusätzlich zum Verhalten der Kälber erfassten die Wissenschaftlerinnen die Herzfrequenz der Tiere mit einem umgeschnallten Messgerät. Hier zeigte sich ein interessanter Effekt über die drei Tage des Versuchs. Bei allen Tieren war die Herzfrequenz in der Box am ersten Tag erhöht. Aber: Während sie bei den Kälbern der Wasser- und Weißwedelhirsch-Gruppen an den Folgetagen sank, blieb der hohe Wert bei den Kälbern der Kojoten-Gruppe bestehen.

Warum der Hirschgeruch?

Das Verhalten und die Herzfrequenz der Kälber sprechen eine deutliche Sprache: Im Vergleich zu den beiden anderen Bedingungen schien der Kojotengeruch sie stärker zu beunruhigen. Aber hätte für dieses Ergebnis nicht der Vergleich zwischen Wasser und Kojoten-Urin gereicht? Wozu wurde im Versuch die Weißwedelhirsch-Gruppe benötigt?

Beim bloßen Vergleich zwischen Kojoten- und Wassergeruch hätte es auch sein können, dass die Kälber nur beunruhigt reagierten, weil es sich beim Kojoten-Urin um einen für sie neuen Geruch handelte. Viele Tiere reagieren auf Neues mit einer gewissen Skepsis. Man hätte also nicht klar sagen können, ob die Kälber wirklich mit Beunruhigung auf Raubtiere reagieren – oder einfach auf Unbekanntes.

Dies lässt sich dank der zusätzlichen Weißwedelhirsch-Gruppe ausschließen: Der Geruch des Urins der Hirsche war für die Tiere ebenfalls unbekannt. Dennoch reagierten sie auf ihn nicht beunruhigt.

Fazit

Die Versuche zeigen: Auch bei Hausrindern ist das Erkennen des Geruchs eines Raubtiers angeboren. Höchstwahrscheinlich handelt es sich dabei um ein Erbe der Auerochsen, ihrer wilden Vorfahren. Überprüfen lässt sich deren Reaktion auf Raubtiergeruch allerdings nicht mehr. Auerochsen sind seit vielen Jahren ausgestorben.


Zur Fach-Publikation:
Adcock, S. J. J. & Tucker, C. B. (2020): Naïve domestic Bos taurus calves recognize the scent of a canine predator. Animal Behaviour 164: 173-180.

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