Ein Mensch macht es vor, ein Vogel macht es nach: Imitation bei Raben

Viele Tiere lernen dadurch, dass sie Artgenossen beobachten. Überzeugende Beispiele für die Imitation des Verhaltens eines anderen Individuums sind allerdings selten. Das Ergebnis einer aktuellen Studie legt nahe: Raben können sogar Bewegungen von Menschen nachahmen.

von Niklas Kästner

Imitation bei Raben (© Loretto et al., 2020, https://doi.org/10.1016/j.anbehav.2020.03.007, Lizenz: CC BY 4.0; geschnitten und mit Erläuterungen versehen von ETHOlogisch; Foto Artikel-Vorschau: Mike Goad via Pixabay)

Nicht nur Menschen, sondern auch viele Tiere lernen, indem sie Artgenossen beobachten. Sie erfahren auf diese Weise, wo sich die Nahrungssuche lohnt, welche Futterquellen sie besser meiden sollten oder welche sozialen Regeln es zu befolgen gilt. Beispiele für Imitation, d. h. das Beobachten und anschließende Nachahmen eines Verhaltens, sind im Tierreich allerdings selten.

Umso beeindruckender ist das Ergebnis einer Studie an jungen Raben: Die Vögel scheinen in der Lage zu sein, sich Bewegungen bei Menschen abzuschauen, um an eine Futterbelohnung zu gelangen. Das zugrunde liegende Experiment dazu wurde schon vor etwa 15 Jahren durchgeführt, nun wurden die Ergebnisse veröffentlicht.

Das Experiment

Die Wissenschaftler*innen um Matthias-Claudio Loretto und Thomas Bugnyar konfrontierten junge, von Hand aufgezogene Kolkraben (Corvus corax) mit einem Problem: Sie präsentierten ihnen eine verschlossene Kiste, in der sich eine Futterbelohnung befand. Dabei handelte es sich um ein Stück trockenes Hundefutter, das bei Raben sehr begehrt ist. Der Deckel der Kiste war in der Mitte geteilt und die beiden Hälften ließen sich nach außen schieben, sodass in der Mitte ein Spalt entstand – und damit ein Zugang zum Futter.

Bevor die Vögel sich selbst an der Lösung des Problems versuchen konnten, durften sie zunächst beobachten, wie sich ein Forscher aus dem Team an der Kiste zu schaffen machte. Dazu wurden die Raben in drei Gruppen eingeteilt: eine „Pick“-Gruppe, eine „Schiebe“-Gruppe und eine Kontrollgruppe. Bei der „Pick-Gruppe stieß der Mann wiederholt mit seinem Finger auf die Stelle, wo sich die Deckelhälften berührten. Dadurch wurde der Spalt immer breiter bis schließlich der Zugang zum Futter frei war. Bei der Schiebe-Gruppe steckte der Mann den Finger nur leicht in den Spalt und schob dann eine der Deckelhälften zu Seite. Bei der Kontrollgruppe legte er bloß die Hände auf den Deckel, ohne die Kiste zu öffnen.

Die Raben beobachteten den jeweiligen Vorgang drei Mal. Anschließend waren sie an der Reihe. Schafften sie es nach fünf Minuten nicht, ans Futter zu gelangen, wurde der Durchgang abgebrochen und sie konnten es später erneut probieren.

Ein Kolkrabe (Foto: Mike Goad via Pixabay, zugeschnitten)

Das Ergebnis

Kein Rabe war auf Anhieb erfolgreich – aber allen Vögeln gelang es im Laufe des Versuchs schließlich, das Futter zu erreichen. Hinsichtlich der Anzahl der dafür benötigten Durchgänge unterschieden sich die Gruppen erstaunlicherweise nicht gravierend.

Aber wie sah es mit dem Vorgehen der Vögel aus? Bevorzugten sie je nach Gruppe verschiedene Methoden zum Öffnen der Kiste? Um mehr Daten zur Beantwortung dieser Frage zu haben, ließen die Wissenschaftler*innen die Raben so lange weitermachen, bis jeder insgesamt mindestens drei Mal die Kiste geöffnet hatte. Dabei beobachteten sie das Verhalten der Vögel und verglichen anschließend die drei Gruppen miteinander.

Das Ergebnis: Tatsächlich hatte das Verhalten des Forschers, das die Raben zuvor beobachtet hatten, einen Einfluss auf ihr Vorgehen. Die Vögel der „Pick“-Gruppe öffneten die Kiste fast ausschließlich mit Schnabelhieben: Sie hackten wiederholt mit dem Schnabel zwischen die Deckelhälften, bis der Spalt dazwischen breit genug für ihren Kopf war. Die Vögel der „Schiebe“-Gruppe zeigten dieses Verhalten zwar auch. Aber ebenso häufig verwendeten sie eine andere Methode: Sie steckten bloß ihre Schnabelspitze in den Spalt und schoben durch eine Seitwärtsbewegung des Kopfes eine der Deckelhälften nach außen.

Und wie öffneten die Vögel der Kontrollgruppe die Kiste? Sie glichen in ihrer bevorzugten Methode der „Pick“-Gruppe. Das spricht dafür, dass das Hacken mit dem Schnabel eher dem intuitiven Vorgehen der Tiere entspricht, um an verborgenes Futter zu gelangen.

Fazit

Die Ergebnisse der Studie legen nahe, dass Raben das Verhalten von Menschen nachahmen können: Vögel, die „Schiebe“-Bewegungen beobachteten, verwendeten häufiger diese Methode und seltener die „Pick“-Alternative. Allerdings sollte man nicht übersehen, dass alle Raben mehrere Durchgänge von fünf Minuten benötigten, um die Kiste überhaupt das erste Mal erfolgreich zu öffnen. Das macht ihre Leistung nicht weniger beeindruckend. Aber es rückt sie doch ins rechte Licht. Die Fähigkeit, das Verhalten anderer nach einmaliger Beobachtung nahezu perfekt zu imitieren – sie bleibt nach allem, was wir wissen, eins der wenigen Alleinstellungsmerkmale des Menschen.


Zur Fach-Publikation:
Loretto, M.-C.; Schuster, R.; Federspiel, I. G.; Heinrich, B. & Bugnyar, T. (2020): Contextual imitation in juvenile common ravens, Corvus corax. Animal Behaviour 163: 127-134.

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