Einflussreiche Feinde: Orcas treiben Grönlandwale unters Eis

Raubfeinde können schon durch ihre bloße Anwesenheit einen enormen Einfluss auf das Verhalten potenzieller Beutetiere haben. Dass dies unter Wasser genauso gilt wie an Land, zeigt eine aktuelle Studie an Orcas und Grönlandwalen.

von Niklas Kästner

Orcas zwischen Eisschollen (Foto: Bryan Goff via Unsplash, zugeschnitten)

Ein Adler, der einen Hasen schlägt, ein Gepard, der eine Antilope jagt – wenn man an Beutegreifer denkt, hat man häufig solche oder ähnliche Bilder vor Augen. Doch neben diesen dramatischen, direkten Auswirkungen beeinflussen Raubfeinde auch indirekt das Leben ihrer potenziellen Beute: Wann Tiere aktiv sind, wo sie ihre Jungen aufziehen, welche Orte sie trotz besseren Nahrungsangebots meiden – das Verhalten einer Art lässt sich häufig nur erklären, wenn man die Bedrohung durch Beutegreifer einbezieht.

Während solche Beziehungen an Land bereits recht gut untersucht sind, ist im Lebensraum Meer weit weniger darüber bekannt. Umso wertvoller ist der Einblick, den eine aktuelle Studie an Grönlandwalen (Balaena mysticetus) bietet.

Die Studie

Grönlandwale kommen ausschließlich in den Gewässern der Arktis vor. Ist eine Direktbeobachtung im Meer generell schwierig, macht eine Eisdecke auf dem Wasser die Sache noch etwas komplizierter. Die Autoren der Studie um die Forscher Cory Matthews und Steven Ferguson wählten dementsprechend einen anderen Weg: Sie statteten sieben Tiere einer acht-köpfigen Grönlandwal-Gruppe mit Transmittern aus. Um zu untersuchen, welche Auswirkungen ein potenzieller Fressfeind auf ihr Verhalten hat, besenderten sie außerdem drei Tiere einer etwa doppelt so großen Gruppe von Orcas (Orcinus orca). Orcas jagen in Gruppen und können Grönlandwalen durchaus gefährlich werden.

Die Transmittersignale erlaubten dem Forscherteam, die Bewegungen der Tiere beider Walarten für einige Zeit während der Sommermonate zu verfolgen. Zum großen Vorteil für die Studie verbrachten die Grönlandwale und die Orcas mehrere Wochen im gleichen Gebiet: dem Golf von Boothia (nördlich der Hudson Bay). Dass die Orcas dort erst etwas später eintrafen, ermöglichte den Forschern, das Verhalten der Grönlandwale vor der Ankunft ihrer Feinde mit dem Verhalten nach deren Ankunft zu vergleichen.

Das Ergebnis

Im Sommer ist das Meereis im Golf von Boothia nicht gleichmäßig verteilt. Die Anwesenheit der Orcas hatte einen starken Einfluss darauf, welche Eisbedingingen die Grönlandwale bevorzugten: Während sie zunächst viel Zeit in Gebieten mit wenig Eis verbrachten, zogen sie sich nach der Ankunft ihrer Feinde in Gebiete mit dicker Eisschicht zurück. Aus früheren Studien weiß man, dass diese von Orcas eher gemieden werden.

Zusätzlich ermittelten die Forscher, welche Bereiche des Golfs die Grönlandwale unabhängig von den Eis-Bedingungen eher rasch durchquerten, und in welchen sie auch mal für eine Weile an einer Stelle blieben – zum Beispiel um zu Fressen. Auch hier hatte die Anwesenheit der Orcas einen enormen Effekt: Vor deren Ankunft durschwammen die Wale die flachen Küstenbereiche meist relativ schnell und verbrachten längere Phasen vor allem in tieferem Wasser. Mit dem Eintreffen der Orcas verkehrte sich dieses Muster ins genaue Gegenteil.

Fazit

Die Ergebnisse der Studie legen nahe, dass Grönlandwale sich als Folge der Bedrohung durch Orcas in ansonsten nicht präferierte Gebiete zurückziehen. Diese bieten ihnen zwar mehr Sicherheit, aber vermutlich ein schlechteres Nahrungsangebot. Damit gibt die Untersuchung einen wichtigen Einblick in die bisher wenig erforschten Dynamiken zwischen verschiedenen Meeressäugern. Darüber hinaus macht sie aber auch auf die große Bedeutung des Meereises im Lebensraum Arktis aufmerksam. In Anbetracht der Klimaerwärmung ist nicht klar, wie lange dieses den Grönlandwalen überhaupt noch Schutz bieten wird.


Zur Fach-Publikation:
Matthews, C. J. D.; Breed, G. A.; LeBlanc, B. & Ferguson, S. H. (2020): Killer whale presence drives bowhead whale selection for sea ice in Arctic seascapes of fear. Proceedings of the National Academy of Sciences USA 01: 1-3.

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