Die Verhaltensbiologin Manon Schweinfurth erforscht kooperatives Verhalten zwischen Tieren. Mit uns hat sie über ihre Arbeit mit Ratten und Schimpansen gesprochen – und über zweigeschlechtige Würmer, die sich beim Befruchten ihrer Eier abwechseln.
ETHOlogisch: Manon, als Verhaltensbiologin beschäftigst du dich mit dem Thema „Kooperation“ – ein Begriff, den wir auch in der Alltagssprache verwenden. Was verstehst du als Wissenschaftlerin darunter?
Manon Schweinfurth: Tatsächlich wird der Begriff „Kooperation“ in verschiedenen Disziplinen und im Alltag unterschiedlich gebraucht. Was ich darunter verstehe: Dass ein Tier einem anderen hilft und ihm dadurch auf irgendeine Weise Vorteile verschafft.
ETHOlogisch: Das, was du beschreibst, passt auch zum Begriff „Altruismus“. Wo siehst du Unterschiede?
Schweinfurth: Altruismus ist eine Form der Kooperation. Kooperation lässt sich aufteilen in Altruismus und Mutualismus. Beim Altruismus ist es so, dass ein Tier dem anderen hilft und es nicht direkt eine Gegenleistung erhält, sondern, wenn überhaupt, erst nach einer gewissen Zeit. Beim Mutualismus hilft ein Tier dem anderen – und schon währenddessen erhält es eine Gegenleistung. Ein gutes Beispiel dafür gibt es bei Dachsen. Die groomen sich gegenseitig (Groomen: Fellpflege betreiben, Anm. d. Red), und wenn einer der beiden Beteiligten aufhört, hört binnen 1,2 Sekunden auch der andere auf. Der große Unterschied zum Altruismus: Es gibt beim Mutualismus keine Möglichkeit zum Betrügen. Altruistisches Verhalten hingegen ist erstmal eine Investition: Ich helfe dir und eventuell habe ich später einen Nutzen davon.
„Ratten schenken sich gegenseitig Futter“
ETHOlogisch: In deiner Doktorarbeit hast du dich intensiv mit kooperativem Verhalten bei Ratten auseinandergesetzt. Was hast du herausgefunden?
Schweinfurth: Ich habe herausgefunden, dass Ratten sehr nett miteinander umgehen und sich gegenseitig sogar Futter schenken – und zwar immer gemäß dem Motto: „Wie du mir, so ich dir“.
ETHOlogisch: Wie genau hast du die Hilfsbereitschaft der Ratten untersucht?
Schweinfurth: Ich habe vor allem mit weiblichen Tieren gearbeitet. Die habe ich trainiert, einen kleinen Apparat zu bedienen. Der steht vor einem Käfig, in dem sich zwei Ratten befinden. An diesem Apparat gibt es ein kleines Stäbchen, und wenn eine Ratte daran zieht, bewegt sich eine Plattform mit Haferflocken ins Käfiginnere. Die Haferflocken wiederum kann allerdings nur die andere Ratte erreichen. So haben die Ratten im Training gelernt: Wenn ich an dem Stäbchen ziehe, dann erhält meine Partnerin etwas zu fressen.
ETHOlogisch: Aber die Ratten werden nicht dafür belohnt, dass sie das Stäbchen ziehen?
Schweinfurth: Nein, nie. Die einzige „Belohnung“ für sie ist die Hoffnung, dass die andere Ratte sich in Zukunft revanchiert.
„Reziprozität oder Gegenseitigkeit ist ein weit verbreitetes Prinzip“
ETHOlogisch: Und das tut sie?
Schweinfurth: Genau. Man spricht von „Reziprozität“, also Gegenseitigkeit. Das ist ein weit vebreitetes Prinzip – es liegt sowohl dem Sozialverhalten mancher Würmer zugrunde als auch den komplexen Handelsverträgen zwischen menschlichen Gesellschaften. Allerdings kooperieren die Ratten gemäß einer Form von Reziprozität, die uns Menschen vermutlich fremd ist, weil sie für uns kaum eine Rolle spielt: Bei den Ratten zählt ausschließlich die letzte Erfahrung. Hat sich eine Artgenossin bei der lezten Möglichkeit zu helfen kooperativ gezeigt, dann hilft ihr eine Ratte, an das Futter zu kommen. Hat sie sich unkooperativ gezeigt, dann hilft die Ratte ihr nicht. Man bezeichnet das als „attitudinal reciprocity“.
ETHOlogisch: Also auch wenn eine Ratte der anderen Ratte zehnmal geholfen hat und dann einmal nicht – es zählt bloß die letzte Begegnung?
Schweinfurth: Ja, das war für uns total erstaunlich! Ich habe genau das in einem Experiment untersucht– nicht zehnmal, aber viermal. Ratten haben eine Artgenossin erlebt, die ihnen an drei aufeinanderfolgenden Tagen geholfen hat, an die Haferflocken zu kommen. Am vierten Tag hat sie nicht geholfen – weil der Apparat blockiert war. Als dann einen Tag später die Ratten wiederum die Möglichkeit hatten, der Artgenossin zu helfen, die zuvor dreimal kooperiert hat und einmal nicht – da haben sie diese behandelt, als hätte sie nie kooperiert.
ETHOlogisch: Bei anderen Tierarten spielen ja auch die sozialen Beziehungen zwischen den Tieren eine Rolle. Wie ist das bei den Ratten?
„Die Suche nach Freundschaften bei Ratten war eine frustrierende Erfahrung“
Schweinfurth: Ich habe für diese Frage versucht, Freundschaften bei meinen Ratten zu erfassen. Das war allerdings eine ziemlich frustrierende Erfahrung. Ratten sind wirklich äußerst nett zueinander und verbringen viel Zeit mit einzelnen Tieren. Aber wie ich feststellen musste, ist das überhaupt nicht stabil: Heute sind sie mit Ratte A zusammen und morgen mit Ratte B. Das könnte letztlich aber auch erklären, warum sie entsprechend dieser besonderen Form von Reziprozität kooperieren.
ETHOlogisch: Inwiefern?
Schweinfurth: Ratten leben in riesigen Gruppen mit bis zu 150 oder sogar 200 Tieren. Sie müssen sich also viele Interaktionspartner merken – und da ist es wahrscheinlich besonders effektiv, einfach die letzte Erfahrung abzuspeichern. Bei Tieren, die ein Freundschaftssystem haben, ist es einfacher: Selbst in großen Sozialverbänden bilden sich dadurch im Grunde kleine Untergruppen. Allerdings lässt sich gar nicht sagen, ob das bei Ratten ein besonderes Phänomen ist: Bei den meisten Tierarten wissen wir nichts darüber, nach welchen Regeln sie kooperieren.
ETHOlogisch: Welche Arten sind in dieser Hinsicht besonders gut untersucht?
Schweinfurth: Neben den Ratten vor allem Kapuzineräffchen und Vampirfledermäuse. Bei den Kapuzineräffchen ist es so, dass auch die letzte Erfahrung etwas mehr ins Gewicht fällt – aber insgesamt spielen Freundschaften eine deutlich größere Rolle. Bei den Vampirfledermäusen wiederum läuft die Kooperation wahrscheinlich ausschließlich über soziale Beziehungen.
„Wenn die Reziprozität nicht stimmt, gehen Freundschaften kaputt“
ETHOlogisch: Wo ordnest du die Menschen ein?
Schweinfurth: Menschen zeigen verschiedene Formen der Reziprozität. Einerseits haben wir Menschen etwas, das bezeichnet man als „calculated reciprocity“, also quasi berechnende Reziprozität. Das ist das, was in Geschäftsbeziehungen eine Rolle spielt – da werden die Leistungen exakt gegeneinander aufgewogen. Diese Regeln würden wir aber niemals bei einem Freund oder einer Freundin anwenden. „Ich habe dir gestern einen Kuchen gebacken, also erwarte ich heute einen von dir“ – das wäre total merkwürdig.
Bei Freunden funktionieren wir eher wie Kapuzineraffen und Vampirfledermäuse, nämlich nach dem Prinzip der sogenannten „emotional reciprocity“, also der emotionalen Reziprozität. Da geht es nicht mehr um eine konkrete Erfahrung mit einem Partner und wie viel der mir gegeben hat. Man hilft sich gegenseitig bzw. tut sich Gefallen, weil man eine enge soziale Beziehung hat. Dabei verlässt man sich darauf, dass der Freund oder die Freundin sich in zukünftigen Situationen revanchieren wird. Stimmt das Verhältnis irgendwann nicht mehr, also nimmt jemand mehr als er oder sie gibt, ist das auf lange Sicht auch einer der Hauptgründe dafür, dass Freundschaften kaputt gehen: Die Reziprozität stimmt einfach nicht mehr.
Und ab und zu helfen wir uns auf ähnliche Weise wie die Ratten; nämlich dann, wenn wir mit vielen Menschen interagieren und wir uns nicht mehr so genau daran erinnern können, was sie für uns getan haben. Dann ist die letzte Erfahrung besonders wichtig.
„Wie ökologisch bedeutsam sind meine Versuche?“
ETHOlogisch: Du hast die Vampirfledermäuse erwähnt. Da ist es so, dass Sozialpartner einander Blut abgeben, wenn einer von ihnen keinen Erfolg bei der Nahrungssuche hatte. Das ist ja ein völlig natürliches Verhalten – wohingegen das „Stäbchenziehen“ im Leben wildlebender Ratten vermutlich keine Rolle spielen dürfte.
Schweinfurth: Das stimmt – in der Natur ziehen die sich keine Plattformen heran. Das war tatsächlich auch eine Sorge, die ich hatte: Wie ökologisch bedeutsam sind meine Versuche eigentlich? Deshalb habe ich weitere Untersuchungen gemacht – basierend auf einer der häufigsten sozialen Verhaltensweisen bei Ratten, der gegenseitigen Fellpflege. Ich habe den Tieren hochkonzentriertes Salzwasser auf den Nacken geschmiert. Da sie relativ kurze Arme haben, kommen sie dort nicht gut hin. Aber eine Partnerin konnte ihnen helfen, das Salzwasser zu beseitigen.
ETHOlogisch: Ein bisschen, wie wenn wir uns gegenseitig mit Sonnencreme einreiben.
Schweinfurth: Genau, ungefähr so (lacht). Die gegenseitige Fellpflege ist ein völlig natürliches Verhalten – kein Training war nötig. Und die Ratten kooperierten nach den gleichen Regeln wie beim Futterexperiment. Letztlich habe ich die beiden Versuche sogar kombiniert: Ratten wurde von Artgenossinnen geholfen, an die Plattform mit den Haferflocken zu gelangen – und dann konnten sie sich revanchieren, indem sie der Ratte beim Entfernen des Salzwassers helfen konnten. Auch da zeigte sich, dass sie nach dem Motto „Wie du mir, so ich dir“ vorgehen. Das zeigt, dass meine Versuche sich in natürliches Verhalten übersetzen lassen und für die Ratten von Bedeutung sind.
„Ich habe in den Schimpansengehegen Saftbrunnen einzementiert“
ETHOlogisch: Du hast nicht nur mit Ratten gearbeitet, sondern forschst derzeit auch an Schimpansen. Was machst du da genau?
Schweinfurth: Mit Schimpansen arbeite ich in einer der weltweit größten Auffangstationen in Sambia: Chimfunshi. Dort leben etwa 130 Tiere in acht großen Außenanlagen.
ETHOlogisch: Auffangstation heißt, es handelt sich um gerettete Tiere?
Schweinfurth: Genau, etwas mehr als die Hälfte der Tiere kommt teils aus wirklich schlimmen Umständen. Zum Beispiel lebt dort eine Schimpansin, die war 17 Jahre eine Art „Attraktion“ in einem Restaurant in Tansania. Sie war dort an einem Eingang angekettet und war sowohl alkohol- als auch zigarettenabhängig. Nicht immer sind die Schicksale so schlimm, aber immer noch werden Mütter geschossen und gegessen und die Kinder dann auf dem Schwarzmarkt als Haustiere verkauft. In der über 4.000 Hektar großen Auffangstation haben sie die Möglichkeit, ein sehr natürliches Leben in großen Außengehegen zu führen. Dort schlafen sie in Bäumen, haben Kontakt zu Artgenossen und dürfen einfach Schimpanse sein.
ETHOlogisch: Und wie hast du dort kooperatives Verhalten erforscht?
Schweinfurth: Da die Schimpansen so unglaublich stark sind, musste es etwas anders laufen als bei den Ratten. Ich habe in ihren Gehegen jeweils zwei Saftbrunnen einzementiert, die miteinander verbunden waren. An jedem Brunnen gab es einen Knopf, und wenn man den drückte, floss am anderen Brunnen Saft. Da die Brunnen ein Stück voneinander entfernt waren, konnte kein Schimpanse für sich selbst drücken – aber die Tiere konnten einander gegenseitig helfen.
„Ein Männchen hat seine Artgenossen als Werkzeuge eingesetzt“
ETHOlogisch: Und das haben sie getan?
Schweinfurth: Ich bin momentan noch dabei, die Experimente auszuwerten. Aber ich konnte bereits einen Unterschied zu den Ratten feststellen. Während diese einander immer reziprok, also gegenseitig, geholfen haben, hatten die Schimpansen viele unterschiedliche Strategien. Ein Männchen hat zum Beispiel seine Artgenossen im Prinzip als Werkzeuge eingesetzt! Er hat immer wieder heranwachsende Tiere eingesammelt und sie wortwörtlich zu einem Knopf gerollt. Dann hat er sich an den Brunnen gesetzt, den Arm ausgestreckt und Bettellaute gemacht – solange, bis die Heranwachsenden auf den Knopf gedrückt haben. Eine Mutter hat ausschließlich auf den Knopf gedrückt, wenn eins ihrer Kinder am Brunnen war – aber sobald ein anderes Tier dabei war, ist sie aufgestanden und gegangen. Andere Schimpansen haben sich aber auch völlig ausgewogen gegenseitig geholfen.
ETHOlogisch: Das klingt etwas komplexer als bei den Ratten.
Schweinfurth: Ich würde sagen, nicht unbedingt komplexer, sondern anders. Ich glaube, bei den Ratten ist Reziprozität sozusagen der Grundzustand, während sie bei den Schimpansen nur unter gewissen Umständen eine Rolle spielt.
ETHOlogisch: Das ist auf jeden Fall spannend – wir sind gespannt auf die Auswertung. An welchen Fragen arbeitest du derzeit?
Schweinfurth: Also neben meinen Forschungsprojekten mit Ratten und Schimpansen habe ich auch angefangen, mit kleinen Kindern zu arbeiten – aber da kam leider die Corona-Pandemie dazwischen.
ETHOlogisch: Gibt es da einen großen Unterschied in Bezug auf die Versuche?
Schweinfurth: Ich interessiere mich vor allem für Kinder, die noch nicht sprechen können. Wenn man da herausfinden möchte, was sie verstehen oder wie sie miteinander interagieren – da sind die Methoden manchmal gar nicht so unterschiedlich zu den Experimenten mit Tieren. Konkret planen wir einen Versuch, bei dem die Kinder sich gegenseitig Seifenblasen schenken können – aber wie gesagt, das liegt momentan leider auf Eis.
„Würmer mit beiden Geschlechtern – und keiner will Weibchen sein“
ETHOlogisch: Zu Beginn unseres Gesprächs hattest du reziproke Kooperation bei Würmern angesprochen. Kannst du das etwas näher erläutern?
Schweinfurth: Das ist echt verrückt! Diese Würmer sind Hermaphroditen, sie haben also männliche und weibliche Geschlechtsorgane. Das Problem: Keiner will Weibchen sein, da die Produktion der Eier viel Energie kostet. Als Männchen kannst du mit wesentlich weniger Aufwand Nachwuchs zeugen. Allerdings – wenn alle Tiere Männchen sind, funktioniert das Ganze natürlich nicht. Darum machen die Würmer das so: Wenn zwei fortpflanzungsfähige Individuen einander begegnen, legt Wurm Nummer 1 ein Ei und Wurm Nummer 2 befruchtet es. Dann legt Wurm Nummer 2 ein Ei und Wurm Nummer 1 befruchtet es – und so weiter. Das ist ein Paradebeispiel für Reziprozität. Natürlich funktioniert das ganz anders als menschliche Geschäftsbeziehungen. Aber trotzdem verhalten sie sich ebenfalls reziprok – und ich finde es superspannend, zu verstehen, wie viele unterschiedliche Varianten es davon gibt, wie die entstanden sind und wie sie sich unterscheiden.
ETHOlogisch: Gibt es zum Abschluss noch etwas, dass du zum Thema „Kooperation“ loswerden möchtest?
Schweinfurth: Wichtig wäre mir, dass meine Arbeit zeigt: Kooperation ist auf lange Sicht die bessere Strategie! Ich glaube, das ist gerade heute besonders wichtig, wo Alleingänge plötzlich wieder an Bedeutung gewinnen. Wir müssen in Beziehungen investieren, um jemanden zu haben, der uns hilft, wenn wir Hilfe brauchen – das zahlt sich letztlich aus.
Über eine Studie zur Kooperation zwischen Ratten, an der Manon Schweinfurth beteiligt war, haben wir vor kurzem berichtet. Den Artikel finden Sie hier: Ratten können Hilfsbereitschaft riechen.
Zur Person: Dr. Manon Schweinfurth ist 32 Jahre alt und hat in Mainz Biologie studiert. Von 2013 bis 2017 arbeitete sie an der Uni Bern als Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für Verhaltensökologie unter der damaligen Leitung von Prof. Dr. Michael Taborsky. Im Rahmen ihrer Doktorarbeit untersuchte sie kooperatives Verhalten von Ratten (Titel der Arbeit: „Whom to help, how and why? Reciprocal trading among Norway rats“). Während verschiedener Praktika und Forschungsaufenthalte arbeitete sie außerdem mit Ameisen, Gänsen, Raben und Pavianen.
Nach ihrer Promotion hat Schweinfurth ihre Forschung zum Thema Kooperation auf Schimpansen ausgedehnt. Seit 2019 leitet sie als „Lecturer“ eine Arbeitsgruppe an der Universität in St. Andrews.
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